
Zu Beginn ein Anlass, der die Debatte neu auflädt. Mit der Einführung von GPT 5 hat ChatGPT spürbar an Reichweite und Alltagsnähe gewonnen. Nutzer können seither in vielen Konten das Modell gezielt auswählen, mit höheren Nachrichtenlimits arbeiten und – je nach Abo – zwischen schnellerer und gründlicherer Denktiefe umschalten. Diese Steuerbarkeit der Denkzeit verändert den praktischen Gebrauch im Kern. Wer Entwürfe, Analysen oder Entscheidungen vorbereitet, bestimmt nun, ob es vor allem schnell gehen soll oder ob die Maschine sich mehr Zeit für komplexere Gedankengänge nimmt. Das ist keine kosmetische Änderung, sondern eine, die direkt auf Erwartung, Vertrauen und Verantwortung im Umgang mit KI wirkt. Sie verschiebt, wie wir Tempo, Tiefe und Autorität in maschinellen Antworten gewichten.
Zugleich sind in ChatGPT Funktionen gewachsen, die KI in wiederkehrende Abläufe einbinden. Zeitgesteuerte Aufgaben, die man dem System anvertraut, tragen KI aus der punktuellen Nutzung in den Alltag, wo sie Prozesse betreut, erinnert, evoziert. Damit entsteht eine unscheinbare Intimität zwischen Nutzer und Werkzeug, die mehr ist als ein einzelner Chat. Sie verändert die Erwartung an Verfügbarkeit und Präsenz der Maschine.
Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf Freuds Schrift „Das Unheimliche“. Freud beschreibt dort jene eigentümliche Mischung aus Vertrautem und Fremdem, in der Gewissheiten verrutschen. Unheimlich wird es, wenn das lange Bekannte plötzlich fremd wirkt, oder wenn das Fremde beunruhigend vertraut erscheint. Freud entwickelt diese Erfahrung an Motiven wie dem Doppelgänger, der unheimlichen Wiederkehr, dem automatischen, scheinbar lebendigen Apparat. Besonders wirksam ist die Verunsicherung an der Grenze zwischen belebt und unbelebt, lebendig und tot, wenn Puppen oder Automaten den Status des Lebendigen imitieren oder wenn Lebendiges matt, entseelt, wie leblos erscheint. Der Effekt gewinnt seine Kraft aus der Wiederkehr Frühkindlichen, das nie ganz verschwand, sondern verdrängt wurde und im passenden Moment zurückkehrt.
Genau hier berührt die aktuelle KI-Erfahrung einen empfindlichen Punkt. Sprachmodelle sprechen in einer Vertrautheit, die das Fremde ihrer Herkunft verdeckt. Sie greifen die Eigenheiten unseres Stils auf, antworten in vertrauten Registern, erinnern an unsere Notizen, verknüpfen Termine, und tun dies in einer Stimme, die mitunter wie die eigene klingt. Die Grenze zwischen lebendigem Gegenüber und funktionalem Apparat verwischt. Was technisch als feinere Steuerung von Denkzeit, Modalität und Gedächtnis erscheint, kippt psychisch leicht in das Gefühl, ein Anderer sei da. Je zuverlässiger und persönlicher die Maschine agiert, desto stärker wird das Unheimliche, weil sie die Schwelle zwischen belebt und unbelebt zur Bühne macht. In Freuds Sinn wäre das die Wiederkehr von etwas sehr Altem: der kindlichen Ungewissheit, ob Dinge beseelt sind, ob der Blick der Puppe zurückblickt, ob der Automat mehr ist als Mechanik.
Die Arbeitswelt spürt diese Verschiebung zuerst in der Praxis. Wenn ein Modell nicht nur schneller schreibt, sondern scheinbar versteht, wenn es Gesprächsverläufe, Stile und Präferenzen mitführt, wächst der Impuls, dem Gesagten den Status eines Gegenübers zu geben. Das kann entlasten, denn Aufgaben fließen leichter. Es kann aber auch verunsichern, denn der eigene Ort im Gefüge Arbeit und Anerkennung wird unklar. Arbeit ist nicht nur Tätigkeit, sondern eine Form, sich zu erleben. Wo die Maschine mit ruhiger Hand Routine übernimmt und mit bedächtiger Denkzeit Entscheidungen vorstrukturiert, meldet sich die Frage zurück, ob man selbst noch sichtbar, unersetzlich, lebendig im starken Sinn ist.
Freud macht im Unheimlichen auf eine weitere Quelle der Beunruhigung aufmerksam: die Wiederholung. Was wiederkehrt, ohne dass man es will, erhält den Ton des Zwangs. Auch in der KI-Erfahrung liegt ein Moment dieser erzwungenen Wiederkehr. Modelle greifen Muster auf und reproduzieren sie, poliert und effizient, und führen damit nicht nur unsere Gewohnheiten fort, sondern spiegeln sie uns zurück. Diese Spiegelung kann trösten, weil sie Erwartung stabilisiert. Sie kann aber auch kränken, weil sie zeigt, wie berechenbar wir sind. Wo die Maschine das Eigene in tausend Variationen wiederholt, liegt Unheimlichkeit nahe, denn die Wiederkehr macht sichtbar, was wir von uns nicht wissen wollten.
Gleichzeitig weckt die Verfeinerung der Modelle Erwartung. Wenn man die Tiefe der Antwort steuern kann, wächst die Hoffnung auf ein Denken, das uns den Umweg der Geduld erspart und dennoch die Ernte der Reife bringt. Daraus entsteht eine stille Verschiebung von Verantwortung. Wer entscheidet, wann genug Tiefe erreicht ist. Wer trägt das Risiko, wenn die gründlichere Antwort trügerisch plausibel ist. Die technisch gebotene Wahl erzeugt psychisch eine neue Last. Sie zwingt zur Auseinandersetzung mit Tempo, Genauigkeit und dem eigenen Verhältnis zu Unsicherheit. In der Sprache des Unheimlichen wäre das die Konfrontation mit einem freien Spiel zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Die Antwort klingt wie wir, aber wir wissen, dass sie nicht von uns ist. Die Maschine denkt länger, aber nicht wie ein Lebendiges denkt.
Im gesellschaftlichen Maßstab nimmt diese Erfahrung die Gestalt eines stillen Kulturwandels an. Die Personalisierung von Modellen, die Anbindung an persönliche Datenräume, die automatisierte Pflege von Abläufen, all dies normalisiert die Nähe zur Maschine. Nähe aber macht verletzlich. Je mehr wir uns mit der KI organisieren, desto stärker berührt sie unsere Fragen nach Würde, Endlichkeit, Sinn. Sie setzt genau dort an, wo der Mensch empfindlich ist, und bringt das Kindliche im Erwachsenen an den Tag. Das erklärt, warum die öffentliche Debatte zu KI so schnell polarisiert. Unterhalb der Sachfragen verhandelt sie die alte Differenz zwischen lebendig und unbelebt, zwischen Blick und Oberfläche.
Wer mit dieser Verunsicherung arbeiten will, braucht keine Panik und keine Verklärung. Es genügt, den Raum zu öffnen, in dem die Unheimlichkeit sagbar wird. Dazu gehört, die eigentümliche Vertrautheit der Maschinenstimme nicht zu romantisieren und nicht zu verteufeln, sondern als das zu nehmen, was sie in Freuds Sinn ist. Die Wiederkehr des Verdrängten in neuer Form. Dann lässt sich auch nüchtern unterscheiden, was technisch wirklich neu ist und was psychisch nur alt wiederkehrt. Technisch ist neu, dass Nutzer den Takt der maschinellen Aufmerksamkeit mitbestimmen und KI in zeitliche Routinen verankern können. Psychisch ist alt, dass wir Dinge beleben und uns vor ihnen fürchten, wenn sie uns zu ähnlich werden.
Am Ende führt diese Entwicklung nicht automatisch zu Entfremdung. Sie fordert uns auf, klarer zu sehen, was wir der Maschine anvertrauen und was wir uns selbst vorbehalten. Sie erinnert daran, dass Sprache nicht nur Information ist, sondern Beziehung. Dass Denken mehr ist als das Ausrechnen plausibler Fortsetzungen. Und sie fordert die alte Arbeit an der Grenze ein. Lebendiges ist nicht dadurch gesichert, dass es schneller antwortet oder länger nachdenkt, sondern dadurch, dass es die eigene Endlichkeit kennt und anerkennt. Genau darin liegt die Chance, die Unheimlichkeit der KI zu verwandeln. Nicht indem man sie bekämpft, sondern indem man sie als Spiegel nutzt, der uns zeigt, wo wir stehen. Moritz Senarclens de Grancy