Die Irrationalität der Macht

Die jüngste Drohnenattacke Russlands auf polnisches Territorium, die zur Ausrufung von Artikel 4 der NATO führte, markiert eine gefährliche Stufe der Eskalation. Der Angriff selbst mag begrenzt erscheinen, doch die Wirkung reicht weit über die unmittelbare Zerstörung hinaus. Er zielte auf das Vertrauen, auf die Sicherheit, auf das Gefühl von Berechenbarkeit. Es ist diese gezielte Verunsicherung, die den Kern autoritärer Machtausübung bildet.

 

Solche Handlungen sind nicht bloß strategische Schachzüge. Sie folgen einer tieferen psychischen Logik: Grenzen werden ausgetestet, Unsicherheit wird erzeugt, und die Gegenseite soll in den eigenen Widersprüchen gefangen werden. Krieg wird so zur Ressource der Machterhaltung. Er erlaubt es, nach innen Gefolgschaft zu mobilisieren und Aggressionen nach außen zu kanalisieren. Herrschaft stabilisiert sich, indem sie den Ausnahmezustand immer wieder neu inszeniert.

 

Ein weiteres Beispiel liefert die jüngst verbreitete Bemerkung, der russische Präsident rechne damit, 150 Jahre alt zu werden. Mag dies auch als Übertreibung oder rhetorisches Spiel erscheinen, verweist es doch auf ein tief verankertes Muster: die Weigerung, eigene Begrenztheit anzuerkennen. Wer sich selbst als unsterblich imaginiert, stellt sich jenseits biologischer, moralischer und politischer Grenzen. Eskalation wird so nicht nur Mittel, sondern Ausdruck einer Herrschaft, die sich durch Überschreitung definiert.

 

Das Desaströse liegt darin, dass die Folgen andere tragen: die Menschen in der Ukraine, die Zivilbevölkerung in bedrohten Regionen, die Gesellschaften, die in Angst und Ohnmacht verfallen. Die Irrationalität, die hier sichtbar wird, ist keine Randerscheinung, sondern strukturell verankert. Sie besteht darin, dass die Anerkennung von Grenzen verweigert wird – sowohl der eigenen Person als auch der politischen Ordnung.

 

PSYCHODYNAMISCHE BERATUNG ALS GEGENMODELL

 

Was aber bedeutet dies für die Arbeit an Konflikten und für die Suche nach Lösungen? Eine Antwort bietet die psychodynamische Beratung. Sie setzt nicht auf schnelle Strategien oder vordergründige Rationalität, sondern auf die Öffnung eines reflexiven Raumes. Psychoanalytisch, systemisch und kulturell informierter Dialog versucht, die Störungen in Kommunikation und Beziehung zum Gegenstand der Betrachtungen zu machen. Er fragt, welche affektiven, emotionalen und historischen Hintergründe – oft verbunden mit kollektiven Traumata – im Hier und Jetzt wirksam sind.

 

In der Arbeit mit Gruppenbeziehungen zeigt sich, dass Spannungen nicht nur zwischen Nationen oder politischen Lagern bestehen, sondern auch in den unbewussten Erwartungen der Beteiligten. Die Dynamik von Führung und Gefolgschaft, die Projektionen auf Feindbilder, die unausgesprochenen Loyalitäten und Ängste – all das prägt, wie Konflikte erlebt und zugespitzt werden. Indem diese Dynamiken sichtbar gemacht und im geschützten Rahmen untersucht werden, entsteht ein Raum, in dem Widerstände gegen Dialog überwunden werden können.

 

Die Erfahrung lehrt, dass solch intensives psychologisches Lernen nicht sofort Vertrauen und Frieden stiftet. Aber es verändert die Haltung, mit der Konflikte wahrgenommen werden. Es ermöglicht, jenseits der Irrationalität der Macht eine andere Rationalität zu entwickeln: eine, die nicht auf Leugnung, Projektion oder Eskalation beruht, sondern auf der Fähigkeit, den Anderen als Anderen anzuerkennen und auch fragen zu können, wo der Andere Recht haben könnte.

 

VOM KRIEG ZUR REFLEXION

 

Die Drohnen über Polen und die Worte eines Herrschers, der sich unsterblich wähnt, sind Symptome einer Politik, die sich der selbstkritischen Reflexion im Führungskontext verweigert. Psychodynamische Arbeit eröffnet das Gegenmodell: Sie schafft Räume, in denen Konflikte nicht verdrängt, sondern bearbeitet werden. Nur so lassen sich die irrationalen Kräfte, die politische Entscheidungen antreiben, benennen – und vielleicht in eine Form bringen, die Lösungen überhaupt erst möglich macht.