Grenzen setzen – und dabei Lust empfinden? Warum Verzicht mehr sein kann als Moral: Ein psychoanalytischer Blick auf Klima, Gesellschaft und das Unbewusste

Immer mehr Menschen sprechen über Klimaschutz, Konsumverzicht und die Notwendigkeit, unseren Lebensstil zu verändern. Dabei ist das Thema nicht nur ökologisch, sondern auch psychologisch und gesellschaftlich aufgeladen. Warum fällt es so schwer, auf etwas zu verzichten? Und warum empfinden manche den Verzicht sogar als befreiend?

 

In diesem Beitrag (verfasst mit Dr. Sophia Léonard) geht es um die unbewussten Dynamiken, die unser Verhältnis zu Regeln, Einschränkungen und Grenzsetzungen prägen – mit einem psychoanalytischen Blick auf aktuelle Phänomene in Kultur, Gesellschaft und individueller Erfahrung.

 

WARUM FÄLLT VERZICHT SO SCHWER – UND FÜHLT SICH MANCHMAL GUT AN?

 

Viele Menschen empfinden den Aufruf zu Verzicht – etwa auf Flugreisen, Fleischkonsum oder Plastik – als moralische Zumutung. Gleichzeitig beobachten wir, dass Verzichtskultur immer öfter mit positiven Gefühlen verbunden wird: Stolz, Zugehörigkeit, moralische Klarheit.

 

Aus psychoanalytischer Sicht ist das kein Widerspruch. Begehren richtet sich nicht nur auf das, was wir wollen – sondern oft auf das, was wir nicht haben oder nicht dürfen. Das Verbotene ist psychisch hoch aufgeladen. Deshalb kann auch das Einhalten einer Regel – etwa ein Verzicht auf Luxus oder Verschwendung – unbewusst mit Lust verbunden sein: als selbst gewählte Begrenzung, als Ausdruck von Handlungsmacht, als Identifikationsangebot.

 

Psychoanalyse spricht hier vom Ambivalenten im Wunsch: Wir wollen etwas nicht nur trotz der Grenze – sondern manchmal wegen der Grenze.

 

VERZICHT ALS SOZIALE BÜHNE – DIE LUST AM „NEIN“

 

Wer sich umweltbewusst, nachhaltig oder „minimalistisch“ verhält, tut das heute nicht nur aus innerer Überzeugung – sondern oft auch im Kontext sozialer Anerkennung. Die Grenze, das „Ich mache da nicht mit“, wird zur Haltung, zur Marke, zur moralischen Geste.

 

Werbetechnisch zeigt sich das in immer mehr Kampagnen, die mit klaren Verboten operieren: „Don’t litter“, „No plastic“, Flugscham, „Rauchfrei bitte“. Solche Botschaften wirken nicht nur belehrend – sie setzen eine unbewusste Dynamik in Gang: Die Grenze wird nicht nur akzeptiert, sondern aufgeladen. Wer mitmacht, erlebt sich als Teil einer ethischen Erzählung.

 

Der Verzicht wird dabei zur ästhetisch inszenierten Selbstbegrenzung, zur freiwilligen Geste im Dienst eines Größeren. Und genau darin liegt eine unbewusste Lust: am Sich-Entziehen, am Anders-Sein, am Zugehörig-Sein über das Nein.

 

PSYCHOANALYSE: NICHT BERATEN, SONDERN HÖREN

 

In der psychoanalytischen Praxis zeigt sich: Die tiefsten Entscheidungen eines Menschen entstehen selten aus bloßer Einsicht – sondern aus einem Prozess des Sprechens, Wiederholens, Verstehens.

 

Eine psychoanalytische Behandlung ist kein Coaching und keine Handlungsanweisung. Sie ist ein Raum, in dem Grenzen – innere wie äußere – wahrnehmbar, spürbar und deutbar werden.

 

Was bedeutet es, „Nein“ zu sagen? Wann ist dieses Nein ein Schutz, wann ein Verzicht, wann eine Form von Begehren? Welche unbewussten Motive stehen hinter dem scheinbar bewussten Entschluss, sich zu entziehen oder zu verweigern? Psychoanalyse bietet keine fertige Antwort, aber einen Prozess, in dem solche Fragen nicht übergangen, sondern ausgetragen werden können.

 

GRENZEN SETZEN HEISST: SUBJEKT SEIN

 

In einer Gesellschaft, in der alles verfügbar scheint – Informationen, Kontakte, Konsum, Wahlmöglichkeiten –, bekommt die Entscheidung, etwas nicht zu tun, einen besonderen Wert. Wer sich dem Zwang zur ständigen Selbstoptimierung, zum permanenten „Mehr“ entzieht, formuliert ein eigenes Maß.

Zu sagen: „Ich will das nicht.“ – nicht aus Angst oder Anpassung, sondern aus innerer Klarheit – ist eine Form von Subjektwerdung.

 

Die Psychoanalyse geht davon aus, dass das Subjekt genau dort entsteht, wo es sich nicht vollständig mit dem identifiziert, was von ihm erwartet wird – sondern beginnt, sich zu sich selbst ins Verhältnis zu setzen. Die Fähigkeit, eine Grenze zu benennen – sei es in Beziehungen, im Beruf oder im Konsumverhalten – ist keine Einschränkung. Sie ist eine Form von Freiheit: die Freiheit, nicht alles zu müssen, was möglich ist.

 

Wer in der Lage ist, seinem eigenen Begehren zuzuhören – auch dort, wo es widersprüchlich, irrational oder schmerzhaft erscheint – kann auch auf andere Grenzen hören: die der anderen, die des Körpers, die der Welt. Denn: Wer keine Beziehung zu seinen eigenen Grenzen hat, wird auch die der Umwelt nicht achten können.

 

WEITERFÜHRENDE GEDANKEN

 

In einer Zeit, in der Algorithmen uns Entscheidungen abnehmen und künstliche Intelligenzen auf unsere Wünsche reagieren, gewinnt die Frage nach subjektiver Begrenzung an Bedeutung. Die Psychoanalyse bietet einen Ort, an dem die Beziehung zur eigenen inneren Grenze nicht übergangen, sondern vertieft werden kann.

 

Sie ersetzt keine Ethik, aber sie macht ethisches Handeln möglich: nicht als äußerer Zwang, sondern als innerer Entschluss.

 

Sie interessieren sich für psychoanalytisches Arbeiten? In meiner Praxis in Berlin-Mitte begleite ich Einzelpersonen, Paare und Führungskräfte in analytischer Psychotherapie, Supervision und psychodynamischer Beratung. Gespräche sind auf Deutsch und Englisch möglich – in der Praxis oder online.

 

www.psychoanalytische-praxis-berlin.eu