
Immer mehr Menschen stellen sich gegen Ende ihrer beruflichen Laufbahn eine Frage, die früher zu früh gewesen wäre: Muss ich wirklich bleiben, wer ich geworden bin? Oder gibt es noch etwas zu sagen, das bisher nie ausgesprochen wurde?
Wer mit langjähriger Berufserfahrung, gesellschaftlicher Verantwortung oder medizinischer Tätigkeit auf ein erfülltes, aber nicht immer leichtes Leben zurückblickt, entdeckt oft: Das, was trägt, ist nicht dasselbe wie das, was trägt. Eine Psychoanalyse kann in dieser Lebensphase ein neues Verhältnis zu sich selbst eröffnen – gerade weil so viel schon entschieden wurde.
1. ERLEBTE BIOGRAPHIE IST NICHT GLEICH VERSTANDENE BIOGRAPHIE
Freud schrieb: „Der Mensch vergisst nie, er verdrängt nur.“ (Über den Traum, GW II/III, 1900, S. 124). Im analytischen Sprechen zeigt sich immer wieder, dass gerade das, was als erledigt gilt, seine Spuren hinterlassen hat – und sich wiederholt, bis es in Sprache gefasst wird.
Was nach außen als stabile Biographie erscheint, als erfolgreicher Lebenslauf, ist innerlich oft ein Zusammenspiel aus Wiederholungen, Loyalitäten, Entscheidungen – und Nicht-Entscheidungen. In einer späten Analyse geht es nicht darum, diese Geschichte neu zu schreiben, sondern sie anders zu lesen.
Viele Menschen entdecken erst dann eine neue Freiheit, wenn sie aufhören müssen, sich ständig beweisen zu müssen. Das eröffnet einen psychischen Raum, in dem sich Muster nicht mehr hinter Leistung verbergen – sondern befragt werden dürfen. Die Psychoanalyse bietet hier nicht Lösungen, sondern einen Ort, an dem das Selbstbild sich lockern darf, um Raum für neue Bedeutungen zu schaffen.
2. SYMPTOME SPRECHEN AUCH JENSEITS DER KARRIERE
„Wir wiederholen, weil wir uns erinnern wollen“, schreibt Freud (Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, GW X, 1914, S. 130). In der späteren Lebensphase treten nicht selten Symptome auf, die nicht nur medizinisch, sondern auch psychisch gelesen werden können: Schlaflosigkeit, diffuse Ängste, Gereiztheit, Leere, psychosomatische Beschwerden.
In der psychoanalytischen Arbeit zeigt sich, dass solche Symptome oft Hinweise sind – auf unbewusste Konflikte, auf alte Loyalitäten gegenüber Autoritäten, auf familiäre Schuldgefühle oder unbewusste Skripte, die das eigene Leben durchziehen.
Besonders in der Phase nach der aktiven Karriere oder nach entscheidenden biografischen Einschnitten verschärfen sich diese Konflikte oft – weil äußere Strukturen wegfallen und damit innere Fragen hörbarer werden. Eine Psychoanalyse eröffnet hier einen Raum, in dem diese Symptome nicht weginterpretiert, sondern ernst genommen und übersetzt werden: in Sprache, in Sinn, in Beziehung.
3. BEZIEHUNG IST KEINE FUNKTION, SONDERN ERFAHRUNG
Aus der Korrespondenz zwischen Freud und Ferenczi wissen wir: „Heilung entsteht nicht durch Einsicht allein, sondern durch die Wirkung der Beziehung.“ Was eine Analyse ausmacht, ist nicht nur das, was gesagt wird, sondern der Raum, in dem es gesagt wird – und der Mensch, der zuhört.
Anders als digitale Anwendungen, Selbstoptimierungsprogramme oder KI-gestützte Gesprächspartner bringt der Analytiker sich selbst in die Beziehung ein: mit seiner Lebenszeit, seiner Präsenz, seiner Bereitschaft, nicht zu funktionieren, sondern zu begegnen.
Gerade Menschen, die ein Leben lang Entscheidungen für andere getroffen haben, erleben es oft als radikal anders, wenn jemand nicht reagiert, um zu gefallen – sondern zuhört, um zu verstehen. Dieser Ort der Beziehung ist nicht verfügbar, nicht steuerbar, nicht simulierbar. Er entsteht – durch Zeit, durch Wiederholung, durch das Wagnis, nicht sofort verstanden zu werden.
ZUSAMMENFASSUNG: ES IST NIE ZU SPÄT, UM SICH SELBST ZU BEGEGNEN
Die psychoanalytische Erfahrung ist keine Frage des Alters. Das Unbewusste kennt keine Pension. Im Gegenteil: Späte Lebensphasen bieten oft die besten Voraussetzungen für eine analytische Arbeit – weil nicht mehr alles von außen vorgegeben ist, weil Freiheit entsteht, nicht mehr funktionieren zu müssen.
Gerade erfahrene Führungskräfte, Mediziner, Unternehmer oder Kulturschaffende bringen in eine Analyse ein, was ihr Leben geprägt hat: Verantwortung, Entscheidungen, Widersprüche.
Die Analyse ist nicht Rückschau, sondern Möglichkeit. Sie eröffnet einen neuen Umgang mit dem eigenen Begehren – nicht im Sinne von Verwirklichung, sondern im Sinn von Anerkennung dessen, was das eigene Leben jenseits von Erfolg und Funktion getragen hat.