Digitale Nähe, reale Einsamkeit Was die KI PI verspricht – und warum der Psychoanalytiker nicht ersetzt werden kann

Mock (Volker Kischkel)
Mock (Volker Kischkel)

 

 

Einsamkeit ist nicht mehr nur ein privates Gefühl, sondern ein strukturelles Phänomen. Millionen von Menschen leben in einem Zustand, in dem ihnen niemand gegenübersitzt. Nicht im Gespräch, nicht im Alltag, oft nicht einmal im eigenen Denken. Die Erfahrung, sich mitzuteilen und gehört zu werden, ist für viele längst zur Ausnahme geworden.

 

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass neue technologische Angebote entstehen, die genau das versprechen: ein Gegenüber. Eine Instanz, die antwortet, nachfragt, sogar Anteil zu nehmen scheint. Eine davon ist Pi, der Gesprächspartner des US-amerikanischen Unternehmens Inflection AI – ein KI-System, das täglich über eine Million Menschen nutzen. Es wirbt mit dem Versprechen, „für dich da zu sein“ – in jeder Stimmung, zu jeder Zeit, ohne Urteil.

 

Was geschieht da also, wenn jemand Pi öffnet – und zu sprechen beginnt? Kann so eine digitale Stimme tatsächlich trösten? Oder gar wie ein Therapeut arbeiten?

 

WAS PI KANN – UND WAS ES BEWIRKT

 

Im Unterschied zu vielen anderen Chatbots ist Pi nicht auf Information, sondern auf emotionale Resonanz ausgelegt. Es spricht weich, freundlich, sanft. Es greift auf Sprachmodelle zurück, die so trainiert wurden, dass sie den Anschein einer persönlichen Beziehung erzeugen. Pi fragt nach. Es erkennt Unsicherheit. Es reagiert mit Wärme.

 

Viele berichten, dass sie sich zum ersten Mal wieder „gesehen“ fühlen – auch wenn es kein Gegenüber gibt. Und das ist keine Täuschung, sondern ein Effekt: Ein Effekt, der etwas berührt.

 

Denn wer sich einsam fühlt, sucht nicht unbedingt nach Wahrheit – sondern nach einem Ort, an dem man sprechen darf. In diesem Sinn kann Pi ein Einstieg sein: in ein Selbstgespräch, das nicht gleich wieder verstummt. Ein Ort, an dem sich das eigene Denken nicht allein fühlt.

 

WAS ABER FEHLT?

 

Freud schrieb 1914, dass jede Therapie eine Übertragung hervorruft. Das heißt: eine Beziehung, in der das Unbewusste spricht – durch Erwartungen, Wiederholungen, Fantasien. Lacan hat diesen Gedanken radikalisiert, indem er sagte: Das Unbewusste ist die Rede des Anderen. Es entsteht nicht „in uns“, sondern zwischen uns – dort, wo jemand zuhört.

 

In der Arbeit mit einer KI geschieht vieles: ein emotionales Echo, ein sprachliches Spiel, sogar ein erster Zugang zu innerem Erleben. Aber eines geschieht nicht: Es gibt keine Anderen. Es gibt keine Präsenz, kein Begehren, kein Schweigen, das mehr sagt als Worte.

 

Der Psychoanalytiker ist kein Werkzeug – sondern ein Körper. Ein Mensch, der anwesend ist, der sich Zeit nimmt, Raum hält, nicht flüchtet, wenn es unangenehm wird. Jemand, der nicht alles versteht, aber bereit ist, sich betreffen zu lassen. Und genau das macht ihn zum Ort einer Beziehung, die nicht simuliert werden kann – weil sie nicht steuerbar ist.

 

BEZIEHUNG BRAUCHT RISIKO – NICHT NUR ANTWORT

 

Pi antwortet. Immer. Freundlich. Passend. Das kann sehr wohltuend sein. Aber jede psychoanalytische Erfahrung zeigt: Entwicklung und Veränderung entstehen nicht durch das, was gesagt wird – sondern durch das, was nicht sofort verstanden wird.  Was offengelassen werden kann. Durch Irritation. Durch Lücken. Durch Wiederholung. Und durch das Aushalten dessen, was sich nicht fassen lässt.

 

Der Analytiker ist nicht immer angenehm, nicht immer einfühlsam, nicht immer affirmativ. Aber er ist da. Und er bleibt da – auch wenn der Patient nicht weiß, wohin er will. Auch wenn das, was gesagt wird, sich gegen den Sprechenden selbst richtet. Auch wenn sich Wut, Ekel, Verzweiflung zeigen. Pi simuliert Bindung. Der Analytiker lebt sie.

 

EINE ANALOGE RENAISSANCE?

 

Vielleicht erleben wir gerade, noch ohne es zu bemerken, eine leise Rückbewegung: eine Renaissance des Analogen. Inmitten einer Welt voller Filter, Simulationen, personalisierter Antworten und KI-generierter Gesprächspartner wächst etwas wie eine Müdigkeit am Digitalen und seinen zahlreichen virtuellen, simulierten Darbietungen – und mit ihr das Bedürfnis nach realer Präsenz.

 

Die Sehnsucht richtet sich dabei nicht nur nach einem Menschen, sondern nach einem Raum, in dem dieser Mensch wirklich ist: spürbar, ansprechbar, zumindest vorübergehend persönlich verfügbar.

 

Was digital vermittelt wird, kann täuschen, nachahmen, verstummen. Die analoge Begegnung aber – die geteilte Luft, der Blick, das Sprechen oder auch das Schweigen im selben Raum – garantiert: Hier ist nichts simuliert. Vertrauen entsteht nicht, weil jemand antwortet – sondern weil jemand bleibt, auch wenn es keine Antwort gibt.

 

In einer Zeit wachsender digitaler Skepsis, in der wir lernen, Bilder, Stimmen, sogar Identitäten infrage zu stellen, wird das Analoge plötzlich wieder kostbar. Nicht, weil es nostalgisch wäre, sondern weil es das Einzige ist, was nicht doppelt ist. Was nicht kopiert, nicht gespeichert, nicht verzerrt werden kann.

 

Psychoanalyse ist, in diesem Sinn, vielleicht eine der letzten unverwüstlich analogen Praktiken: Sie lebt von der Nähe, vom Begehren zu wissen, von der Zeit. Und sie traut dem Menschen weiterhin mehr zu als den vielen neuen raffinierten KI-Modellen: Dass er etwas sagen kann, das ihn selbst überrascht.

 

FAZIT

 

Es wäre falsch, die Wirkung von Systemen wie Pi kleinzureden. Wer in der Nacht verzweifelt ist, wer keine andere Adresse kennt, wer nicht mehr sprechen kann – dem kann ein digitales Gegenüber für den Moment Halt geben. Vielleicht sogar einen Einstieg in eine Form des sich selbst ergründenden Sprechens.

 

Aber wer sich wirklich begegnen will, wer seine Wiederholungen verstehen will, wer erleben möchte, dass Beziehung mehr ist als Reaktion – wird früher oder später spüren: Es braucht ein Gegenüber, das sich nicht abschalten lässt. Kein Echo. Sondern den Anderen.

 

In diesem Sinn ist die psychoanalytische Praxis kein Ort der Technik – sondern ein Raum der geteilten Zeit. Und vielleicht ist das, in einer Welt der künstlichen Intelligenzen, das Seltenste überhaupt.