
Oder: Warum das Unbewusste nicht digitalisiert werden kann
In einer Zeit, in der künstliche Intelligenz immer selbstverständlicher Teil unseres Alltags wird, wächst auch ihr Einfluss auf psychologische Fragen. Viele Menschen nutzen Programme wie ChatGPT, um Rat zu suchen, sich selbst zu reflektieren oder in Krisen eine erste Orientierung zu finden. Was auf den ersten Blick nützlich erscheint, wirft eine zentrale Frage auf: Was unterscheidet eine echte psychoanalytische Erfahrung von einem intelligenten Dialogmodell?
Hier sind fünf Dinge, die den Unterschied machen:
1. Psychoanalyse hört nicht nur zu – sie hört anders
ChatGPT reagiert auf Sprache, auf klar formulierte Eingaben, auf kohärente Sätze. Die Psychoanalyse dagegen interessiert sich für das Nicht-Sagbare, für Umwege, Versprecher, Pausen, Widersprüche. Sie lauscht nicht auf das Gesagte, sondern auf das, was im Sprechen durchbricht – oder gerade nicht gesagt werden kann.
Was Freud einst in der Traumdeutung (1900) über Träume sagte, gilt auch für die Sprache in der Analyse:
„Der Traum ist die (verkleidete) Erfüllung eines (verdrängten) Wunsches.“
Das Verdrängte ist nicht verschwunden – es zeigt sich in der Form, in der Sprache, in ihren Brüchen. Ein Algorithmus kann solche Formen registrieren – aber nicht in ihrer emotionalen, symbolischen Tiefe verstehen.
2. Der Analytiker ist kein „Antwortgeber“ – sondern ein Zeuge Ihres Sprechens
Psychoanalyse ist kein Coaching und kein Chat: Sie gibt nicht sofortige Antworten, keine Lebensratschläge, keine „Lösungen“. Sie eröffnet vielmehr einen Raum, in dem das eigene Sprechen zum Gegenstand der Arbeit wird. Der Analytiker dient nicht als allwissende Instanz – sondern als jemand, der hinhört, aufnimmt, zurückspiegelt – ohne zu werten oder zu interpretieren, bevor etwas gesagt werden kann.
Bruce Fink bringt es auf den Punkt:
„The analyst does not seek to reassure, instruct, or advise, but rather to open up a space in which something unknown can begin to speak.“
Ein solcher Raum ist nicht interaktiv im technischen Sinn, sondern dialogisch im tiefsten Sinn – weil darin ein Anderer ist, der nicht automatisiert reagiert, sondern mitgeht, irritiert, manchmal auch schweigt.
3. Psychoanalyse geht nicht vom Ich aus – sondern von seinem blinden Fleck
Künstliche Intelligenz operiert auf Grundlage bewusster Inhalte: Sprache, Logik, Information. Die Psychoanalyse dagegen beginnt dort, wo das Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus ist. Der Mensch weiß eben nicht, was er sagt, auch wenn er glaubt, sich klar auszudrücken.
Das Unbewusste äußert sich – in Symptomen, in Wiederholungen, in Träumen, in scheinbar zufälligen Formulierungen. Wer den Anspruch hat, sich „selbst zu verstehen“, wird mit KI vielleicht schneller beruhigt. Wer sich aber mit der Wahrheit seiner eigenen Sprache konfrontieren möchte, braucht ein Gegenüber, das weiß: Verstehen ist ein Prozess, kein Download.
4. Der psychoanalytische Raum hat keine Funktion – und genau das ist seine Kraft
Im Unterschied zu Beratung, Coaching oder algorithmischer „Hilfestellung“ bietet die Analyse keinen vorgefertigten Zweck. Sie ist kein Tool zur Selbstoptimierung. Der Raum der Analyse ist zweckfrei – und darin liegt sein Potenzial. Hier darf etwas entstehen, was nirgends sonst Platz hat: Wiederholung, Widerstand, Wunsch.
In der Sprache Lacans: Der Analytiker besetzt die „Funktion des Mangels“, das heißt: Er gibt dem Nicht-Wissen Raum – nicht dem schnellen Verstehen. KI dagegen will schließen, vervollständigen, beantworten. Analyse dagegen öffnet – und das nicht selten schmerzhaft.
5. Sie sprechen mit einem Anderen – nicht mit einem Modell
Ein zentraler Unterschied schließlich ist: In der Psychoanalyse spricht man mit einem Menschen – mit einem Anderen, der selbst in Sprache verstrickt ist, mit Geschichte, mit eigener Position. Dieser Andere reagiert nicht neutral oder vorhersehbar. Er begegnet Ihnen, manchmal widerständig, manchmal zurückhaltend, aber immer als Mensch. Und genau das macht etwas mit Ihnen.
Christina von Braun schrieb kürzlich in der FAZ:
„ChatGPT hat kein Unbewusstes. Kein Träumen, kein Vergessen, keine Sprache, die verrät, was man nicht sagen will.“
(FAZ, 21.03.2024)
In der Analyse ist genau dieses Nicht-Gesagte das Entscheidende. Es ist das, worauf sich alles richtet.
Fazit
ChatGPT kann nützlich sein – als Werkzeug und als strukturierender Dialogpartner. Doch es bleibt eine Echokammer der eigenen Worte. Die Psychoanalyse lässt Raum für das, was man nicht sagen kann – und hilft, es irgendwann doch zu sagen. Nicht weil jemand die Antwort kennt – sondern weil jemand zuhört.